Derzeit schreibe ich einen Roman auf Grundlage eines von mir trainierten Sprachmodells. Für den Tagesspiegel habe ich am 8. Juli beschrieben, wieso ich das mache und was ich mir davon verspreche. Der untenstehende Text ist unter dem Titel »Literarisches Schreiben mit KI. Wie aus vier Romanen einer wird« erschienen (anderer Titel online, dort steht auch fälschlicherweise, ich hätte ChatGPT verwendet, was nicht stimmt).
Kieferling und Teichenkopf. Über Schreiben mit KI
„Als Kind hatte ich ein Gebiss, das eine unkonventionelle Einteilung zwischen einem Kieferling und einem Teichenkopf anzeigte. Der Kieferling war in der Kraft verwurzelt, der Teichenkopf durch eine äußerst schlanke Basis gefestigt, die den Kiefer in demselben Moment, als die Beine sich schüttelten, aus dem Kieferling herauszog.“
Kieferling und Teichenkopf waren plötzlich einfach da, ohne dass ich hätte sagen können, wo genau sie hergekommen waren. Auch wusste ich nicht, worum es sich bei den beiden eigentlich handelte – waren sie Tiere, Menschen oder gar belebte Gegenstände? –, geschweige denn, wie genau sie aussahen. Aber genau dieses Rätsel machte ihre Faszination aus. In ihrer Unbestimmtheit erinnern sie an Franz Kafkas mysteriöses, weil unbeschreibbares Wesen Odradek. Aber anders als Odradek sind Kieferling und Teichenkopf keinem menschlichen Hirn entsprungen, sondern das Ergebnis einer literarischen künstlichen Intelligenz, mit der ich vor einiger Zeit begonnen habe, einen Roman zu schreiben.
Seit dem Durchbruch von ChatGPT werden die Warnungen lauter, KI-Modelle könnte auf kurz oder lang Menschen überflüssig machen, gar Kunst und Literatur produzieren. Wie genau diese Ersetzung aussehen soll, wird dabei oft nicht näher ausgeführt. Dabei macht es einen himmelweiten Unterschied, ob ein sogenanntes großes Sprachmodell als synthetischer Autor ganz autonom einen Roman schreibt – eine fast unvorstellbare Revolution – oder ob eine menschliche Schriftstellerin ein System wie ChatGPT als Werkzeug verwendet – eine Banalität, denn digitale Werkzeuge wie Wordprozessor oder Rechtschreibprüfung benutzen wir schon heute.
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. KIs können sicher nicht von sich aus Kunst schaffen – im Produktionsprozess steht an so vielen Stellen ein Mensch, der der Maschine den Auftrag erteilt, in den Prozess korrigierend eingreift oder ihr Ergebnis zum Werk erklärt, das von Autonomie keine Rede sein kann. Zugleich aber sind große Sprachmodelle doch etwas anderes als bloße bessere Schreibprogramme, denn in ihre Ausgaben überraschen und sind nie ganz vorauszusehen. Den Kieferling hätte sich Microsoft Word jedenfalls nicht ausdenken können.
Um diesen Zwischenraum zu erkunden und herauszufinden, wie man mit KI Literatur machen kann, habe ich mir mein eigenes Sprachmodell gebaut. Dazu nahm ich vier Gegenwartsromane, die der Literaturwissenschaftler Elias Kreuzmair als beispielhaft für eine „Literatur der digitalen Gesellschaft“ bezeichnet hat: Juan Guses Miami Punk, Berit Glanz’ Pixeltänzer, Joshua Groß’ Flexen in Miami und Julia Zanges Realitätgewitter. Mit diesem Textkorpus als Rahmen trainierte ich das offene Sprachmodell GPT-J. Nun konnte ich es Text ausgeben lassen, der diesen Romanen in Stil und Sujet nahekommt, statt nur auf der recht langweiligen Standardsprache zu verharren, die etwa ChatGPT eigen ist.
Schon bei meinem ersten Versuch mit dem Modell hatten Kieferling und Teichenkopf ihren Auftritt. Sie kommen nirgends im Trainingskorpus vor und sind eine genuine Erfindung der KI. Übernommen hat sie dagegen die Form der Kindheitserinnerung, die in diesen Romanen immer wieder erscheint. Satz für Satz nun ließ ich die KI die Geschichte fortschreiben, wobei ich den Output sanft lenkte: Ich löschte Teile, die mir nicht gefielen, oder gab die ersten Worte einer neuen Passage vor. Sonst aber folgte ich dem Modell in die Tiefen seines Vektorraums.
Die Geschichte, die es zu schreiben begann, ist schwer zusammenzufassen. Ein namenloser Erzähler berichtet von einem Konflikt mit seinem Vater, mit dem er gemeinsam eine Wanderung unternimmt, auf der der Kieferling sie begleitet. Worin der Konflikt genau besteht ist aber ebenso unklar wie der Grund für den Ausflug. Am Ende steht ein Mord: „Mein Vater erschoss den Kieferling später, auf einer anderen Wanderung, als der Teichenkopf es ihm riet.“ (Das so entstandene Kapitel ist in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Metamorphosen“ nachzulesen.)
Die vielen logischen Brüche machen den Text rätselhaft, aber gleichzeitig klingt er auf seine Weise zwingend. Beim Lesen beschleicht einen der Eindruck, hier werde nicht erzählt, sondern nur der Schein von Erzählung erweckt. Aus dieser Beobachtung folgte schließlich der Entschluss, so einen ganzen Roman zu schreiben, der im Herbst als (Berlin, Miami) erscheint. Und zwar nicht, weil ich der Meinung wäre, der Kieferling verdiene ein ganzes Buch (auch wenn das vielleicht nicht falsch ist), sondern als Experiment, das eine Hypothese über die Natur von KI und Romanen überprüft.
Denn bisher wurden zwei Gründe vorgebracht, warum KIs keine Romane schreiben können. Der erste ist, dass ihr „Kontextfenster“ zu klein ist. Sie können sich schlicht nur eine begrenzte Anzahl von Zeichen auf einmal bearbeiten, vergessen danach aber, was sie bisher geschrieben haben und schweifen so immer weiter von ihrem Ausgangspunkt ab. Große Plotbögen lassen sich damit nicht produzieren. Das ist aber ein bloß technisches Problem und das KI-Modell Claude der Firma Anthropic etwa kann sich bereits bis zu 100 Seiten Text merken – genug mindestens für eine Novelle.
Schwerer wiegt dagegen das zweite Problem, das die Natur von Statistik betrifft: Denn Sprachmodelle können nur Korrelationen, keine Kausalitäten verarbeiten. Auf bestimmte Wörter oder Sätze folgen sehr wahrscheinlich andere Wörter oder Abschnitte; das sagt aber nichts darüber, ob sie auch in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen. So tauchen die Wörter „Rauch“ und „Feuer“ oft gemeinsam auf, aber ob das Feuer die Ursache des Rauches ist oder umgekehrt, weiß die KI an sich nicht.
Aus diesem Grund glaubt der Literaturwissenschaftler Angus Fletcher, dass eine KI ganz prinzipiell keine ganzen Romane schreiben kann. Weil Erzählen nicht die bloße Aneinanderreihung von Ereignissen sei („und… und… und“), sondern ihre ursächliche Verknüpfung („deshalb… deshalb… deshalb“), könne aus der bloßen Korrelation keine kausale Narration hervorgehen.
(Berlin, Miami) nun untersucht diese These in Romanform. Was geschieht, wenn die Maschine gegen alle inneren Widerstände doch erzählen soll, indem sie lediglich die Oberflächenstruktur von Narration nachahmt? Bisher kann ich mit Sicherheit berichten: unterhaltsamer Irrsinn.
Der Eindruck von Erzählung stellt sich durchaus ein: Es gibt eine angedeutete Liebesgeschichte zwischen einer KI und einem Menschen; es gibt den Plan, sich gegen „die Behörde“ zu Wehr zu setzen, und sich dabei „die Agenten der Ãää – die Ãäänfänger“ vom Leib zu halten; es gibt eine Vielzahl von Figuren, imaginären Büchern und Kunstwerken, und all das ist eingebettet in lange, stilistisch kühne Beschreibungen der Zustände in „Miami“ und „Berlin“, die beide an einem postapokalyptischen Abgrund zu stehen scheinen.
Über Miami heißt es etwa: „Das ist ein beispielloser Ort: Man ist ein Hähnchen in einem Zentimeterwärmer, ein Raubtier in einem Riesen-Tierpark, der den Inselstaat Okeanos-Jamaica besetzt, und in diesem Park wohnt der größte Raubtieranbieter in der Welt.“ In Berlin, so heißt es „in der Tatenspiegel-Zeitung“ brechen Unruhen aus, die Ãää muss einschreiten.
Aber immer wieder bricht dieser Eindruck von Kohärenz zusammen. Die großen Pläne zum Aufstand werden nie realisiert. Die Beschreibungen wiederholen und widersprechen sich. Die Figuren werden immer mehr, aber treten nie wirklich in Kontakt. Das alles ist eben nur die Oberfläche von Erzählung.
Faszinierend ist für mich dabei zweierlei: Die Schreibarbeit und die Beobachtungen, die man bei der Lektüre an sich selbst macht. Denn arbeitet man längere Zeit zusammen mit der KI, stellt sich ein merkwürdiges Gefühl gemeinsamer Autorschaft ein. Ich bin ich es zwar, der etwa das erste Wort vorgibt, das das Sprachmodell dann zu einem Satz fortschreibt, und auch bin ich es, der einen Satz wieder löscht, wenn er mir nicht gefällt. Aber zugleich sehe ich dem Schreibprozess doch wie von Ferne zu und erfahre die KI als etwas verwirrten aber überproduktiven Schreibpartner mit eigenen Tendenzen, die ich mal gütig erlaube, mal streng verweigere.
Zweitens verändert das Schreibexperiment auch meine Lesehaltung. Denn ist man einmal durch mit dem Buch, überträgt sich die nervöse Erwartung, der nächste Satz könne das bisher Gelesene wieder unterlaufen, auch auf Texte, die man danach zu Gesicht bekommt. Wie durch eine getönte Brille nehme ich Zweifel mit, ob auch hinter diesem Satz eigentlich kein Mensch allein, sondern auch eine Maschine steht. Mag sein, dass wir in Zukunft überhaupt mehr mit diesem Zweifel lesen werden.
Aus meinem Versuch habe ich gelernt: Schreiben mit KI mag kaum Literatur zu schaffen, die man wie einen Bestsellerroman liest, eher ist sie ein Schwelgen im Absurden. Aber das ist vielleicht ihre Stärke – im besten Fall ist sie bewusstseinserweiternd, zumindest für kurze Zeit, zumindest als Experiment.
(Berlin, Miami) erscheint im Herbst im Rohstoff-Verlag, einem Imprint von Matthes und Seitz.
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