Neues Buch: Wendekorpus

Zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober erscheint das Langgedicht »Wendekorpus«, das in meinem Buch Halbzeug erschienen ist, als Sonderausgabe im Frohmann Verlag.

Aus dem Nachwort:
»Wir« ist ein gewalttätiges Wort. Nicht nur, weil ein Wir immer auch ein Ihr oder ein Sie braucht, das es ausschließt. Die Gewalt im Wir ist auch eine einschließende. Wer »Wir« sagt, verleibt sich die ein, die er mitmeint. Ein Wir verspeist. Und doch scheint einem Wir nur ein anderes Wir Widerstand leisten zu können.
Es sei denn, man kann sich dem ganzen Wir-Sagen entziehen. Die 30 Jahre, die seit dem Mauerfall vergangen sind, der heute von einem offiziellen Wir gefeiert wird, sind nicht lang genug gewe­sen, die kleinen mitgemeinten und mitverspeisten Wir auch völlig zu verdauen. Geht man auf diese Zeit zurück, deren Film­bilder heute zu Ikonen eines linearen, zwangsläufigen Geschichtsverlaufs geworden sind, und betrachtet stattdessen ihre Sprachbilder, zeigt sich eine Vielfalt von Wir, die nur als einzelne bestehen können.
Der »Wendekorpus Ost+West« des Instituts für Deutsche Sprache enthält tausende Wir. Seiner offiziellen Beschreibung nach wurde er »im Rahmen des Projektes Gesamtdeutsche Korpusinitiative, arbeitsteilig im IDS und im früheren Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, ehemals zur Akademie der Wissenschaften der DDR gehörend« erarbeitet. Er umfasst ca. 3,3 Millionen laufende Wortformen aus 3.387 Texten, zusammengestellt aus Zeitungsartikeln, Flugblättern, Interviews, Reden und Plenarprotokollen aus Ost und West, die zwischen Mitte 1989 und Ende 1990 – im Niemandsland zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung – entstanden sind.
Über die Webseite des Instituts für Deutsche Sprache kann man auf diesen Korpus der Wendezeit­sprache zugreifen. Dazu stellt das IDS ein Korpusanalyseprogramm zur Verfügung: Mit COSMAS II kann man nach bestimmten Wortformen, Verbindungen, Kollokationen und Konkordanzen suchen. Oder die kleinen Wir sich dem großen Wir entziehen lassen.
Für Wendekorpus habe ich alle mit »Wir« beginnenden Sätze ausgeben lassen; um einer lesbaren, konzisen Form willen habe ich die Satzlänge auf exakt sechs Wörter beschränkt: kurz genug für klare Aussagen, lang genug, um Nuancen zuzulassen. Das Ergebnis ist kein großes Wir, sondern viele kleine. Ein widersprüchliches, schizophrenes und identitäts­kon­fuses Stimmengewirr der Wendezeit, das keine Auflösung braucht und keine will: »Wir blieben strittig an diesem Tag.«


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